Dienstag, 17. April 2007

Keine Komparsen

Gestern war ich mit dem guten Pepo bei Maximo Park, der sympathischen Band aus Newcastle. Im Rahmen der diese Woche stattfindenden Milan Design Week, bei der unter anderem auch MTV Italien als Sponsor fungiert, gibt es zur Zeit jede Menge Veranstaltungen und Konzerte in der Stadt, die man sich größtenteils für lau angucken kann, Sahne!
Nachdem wir mit der Metro und der Straßenbahn durch die halbe Stadt gecruist sind, erwartete uns vor dem von Maximo Park zu bespielenden Laden, dem Rolling Stone, eine doppelt so lange Schlange wie vor einem DDR-Kiosk nach einer Lieferung Bückware.
Nun gut, Pepo zum Bier holen beim Döner/Pizza/Chinamann geschickt und brav eingereiht und das Rock’n’Roll-Lokalkolorit bestaunt. Neben zarten Rockmiezen und auf Provokation gebürsteten Franz-Ferdinand-Imitat-Gören mit Schlips, Chucks und Karotten-Jeansbüx stand vor mir ein Typ der aussah wie aus Mel Gibsons Indio-Streifen entsprungen, sehr beeindruckend.
Drinnen dann von Pepo zu einem Gin Tonic gezwungen worden, mit den Worten: “Heute Abend trinken wir aber mal nicht, ok?” Pepo war nämlich noch stark verkatert vom Sonntag, an dem er einen Aperitivo-Marathon von zwei Uhr Mittags bis Mitternacht absolviert hatte, außerdem litt er wie ich unter dem Pollenflug (der mich heute Nacht übrigens in Form akuter Atemnot jäh aus dem Schlaf reißen sollte).
Als wir uns dann in dem sehr schönen aber picke-packe-vollen Laden im Zentrum der Partycrowd an unseren, nach meinem Geschmack immer viel zu bitteren, Gin Tonics verlustierten, stand vor uns plötzlich ein zirka zwei Meter hohes Wesen aus halb Mensch halb High Heel, das seine Ellbogen abspreizte, auf dass es ja keiner berührte. Unfassbar! Pepo schob dieses abnorme Verhalten auf Amphetaminkonsum, ich auf mit Arroganz gepaarter Blödheit. Dann! Meint Pepo: “Hier guck mal da, die beiden Mädels dahinten knutschen rum. Aber das sind bestimmt gar keine Lesben, sondern die machen das nur, um Aufmerksamkeit zu bekommen.” Klappte auch ganz gut, zumindest bei mir. Dabei entging meinem, zwar vom Heuschnupfen und der zu Hause gelassenen, noch immer zerschroteten Brille, getrübten Blick nicht, dass diese beiden Mädchen tatsächlich gar keine Lesben waren. Noch nicht mal beides Mädchen waren das, auch wenn man wirklich leicht darauf reinfallen konnte, schließlich war der Junge auch viel stärker geschminkt als seine Freundin.
So, dann erst mal mühevoll aus dem Dunstkreis der Ellbogen-von-sich-Streckerin gelöst und wieder freie Sicht auf die Bühne bekommen, auf der gerade eine italienische Band ihr Set begann. Pünktlich zu dem ersten Ton baute sich allerdings Sideshow Bobs Schwester vor uns auf, die sich von ihrem Bruder vor allem durch einen höheren Körperwuchs und mehr Haare unterschied. War aber nicht so schlimm, optisch hatten die Jungs auf der Bühne ohnehin nicht mehr zu bieten als ein etwas nerdiges und ungekämmtes Äußeres, das an We Are Scientists einerseits und vielleicht Die Strassenjungs andererseits erinnerte. Musikalisch klang das erste Stück ein wenig nach Green Day, der Rest dann so wie Sum 41 und diese Typen, die dieses Kalifornienlied trällern, nur weniger gut gesungen. Schockte aber trotzdem einigermaßen und doch haben wir mitten im Gig lieber eine Zigarettenpause eingeschoben, zu der man nämlich, wie im Deutschland der Zukunft, in eine eigens abgesperrte Raucherzone gehen muss, wo man eigentlich auch schon gar nicht mehr zu rauchen braucht, weil das schon die anderen für einen machen.
Pünktlich zum Auftritt von Maximo Park zurückgekehrt, wurde ich von dem das Set einläutenden Video, das mit Zahlen um sich schmiss und uns irgendwie an unseren allgemein übertriebenen Konsum gemahnen sollte, abgelenkt durch etwas was mich wahrscheinlich noch Jahre im Schlaf verfolgen wird:
Eine tätowierte Lippe!
Nun war der Besitzer des Gesichtstattoos allerdings weder Mike Tyson noch Sheriff aus dem Neumünsteraner Renks Park (der mit dem auftätowierten Stirnband und dem ledernen Cowboyhut, der Bobel wie einen Schokoriegel isst), sondern ein junges Mädchen von ungefähr 20, das ein T-Shirt mit Bambi drauf trug und, ich kann es kaum genug betonen: einen tätowierten Stern auf der Unterlippe!!! Ich wusste gar nicht, das sowas technisch möglich ist. Aber man lernt ja nie aus. Apropos lebenslanges Lernen: Natürlich nutzte ich den Abend wieder, um Pepo ausgiebig über die Feinheiten der italienischen Sprache auszufragen und erhielt wieder mal die beste Lektion, als ich gar nicht mehr fragen wollte. Doch dazu später, das soll nämlich die Punchline werden.
Zunächst fühle ich mich noch verpflichtet, zumindest ein bißchen, auf den Auftritt der Maximo Parker einzugehen: War ganz gut.
Leider kannte ich glaub ich nur das erste Lied (Graffiti) und war danach, wie es mir eigentlich bei fast jedem Konzert geht, leicht gelangweilt und vom Rumstehen und –geschubstwerden leicht angeätzt. Doch da können die ja nix für, die sich da auf der Bühne abmühen, an denen gab’s nämlich gar nichts auszusetzen: Sound war ok (nur kurze Rückkoppler aber das muss bei Rock’n’Roll ja so), Musiker auch und Publikum, wie ausführlich geschildert auch sehr unterhaltsam. Letzteres wiederum kann wahrscheinlich aber auch nur in Italien so sein: dass das Publikum interessanter ist als die Leute auf der Bühne. Nicht zu Unrecht sagt man diesem Völkchen einen extremen Hang zum Individualistentum und einen überausgeprägten Drang zur Selbstdarstellerei nach. Dazu passt die sehr treffende Bemerkung aus dem Buch “Überleben in Italien” von Beppe Severgnini: “In diesem Land gibt es keine Komparsen, nur Hauptdarsteller.”
Einer von diesen (Pepo) erteilte mir dann beim After-Show-Burger eine wiedermal ebenso lehrreiche wie unterhaltsame Lektion in italienischer Grammatik, nachdem ich ihn fragte:
“Ti piacerebbe vivere qualcun giorno fuori d’Italia?” und damit sagen wollte “Würdest du eines Tages gerne außerhalb von Italien leben?” Er guckte mich nach meiner unbeholfenen Artikulation aber wieder schön verdaddert an, weil ich nämlich in Wahrheit gesagt habe: “Würdest Du gerne einen Tag außerhalb von Italien leben?” Was tatsächlich eine nicht unerhebliche Bedeutungsnuance darstellt, die aus einer normalen Frage eine ziemlich behinderte macht.

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